Überblick
Europa erwarten 2024 sehr wahrscheinlich mehrere Quartale mit negativem oder zumindest stagnierendem Wachstum. Wie lange diese Phase anhält, hängt von mehreren Faktoren ab, aber das wahrscheinlichste Szenario ist, dass die Eurozone in eine leichte bis mittelschwere Rezession eintritt, bevor gegen Ende nächsten Jahres wieder ein Wachstum zu erwarten ist. Allerdings kann eine längere Stagnationsphase nicht ausgeschlossen werden, vor allem wenn die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) zu lange zu restriktiv bleibt.
Ein überraschend schneller Rückgang der Inflation würde wahrscheinlich die EZB veranlassen, die Zinsen eher früher als später zu senken. Die wäre günstig für deutsche Bundesanleihen, würde aber den Euro schwächen. Die Entwicklung der europäischen Aktienmärkte wird wahrscheinlich so lange gedämpft bleiben, bis die Erholung einsetzt, und zu diesem Zeitpunkt könnten sich durch die günstigen Bewertungen Kaufgelegenheiten ergeben.
Zuletzt ließen die Einkaufsmanagerindizes (PMI) erkennen, dass die europäische Wirtschaft sich bereits in einer Rezession befindet. Die Zahlen zum deutschen verarbeitenden Gewerbe sind sehr schwach und die entsprechenden französischen Einkaufsmanagerindizes sind auf ein ähnlich schwaches Niveau gefallen. In Italien und Spanien sind die Einkaufsmanagerindizes leicht gestiegen, allerdings von einem sehr niedrigen Niveau aus. Die Einkaufsmanagerindizes aus dem Dienstleistungssektor schwächen sich überall in der Eurozone ab. Insgesamt lässt diese Dynamik den Schluss zu, dass der Tiefpunkt des Konjunkturzyklus im verarbeitenden Gewerbe in der Eurozone kurz bevorsteht, während der Rückgang im Dienstleistungssektor anhalten könnte (Abbildung 1).
(Abb. 1) Der Konjunkturzyklus im verarbeitenden Gewerbe könnte bald seinen Tiefpunkt erreichen
Deutschland, die Lokomotive des europäischen Industriesektors, steht vor mehreren Herausforderungen. In den 2000er-Jahren stieg die Erwerbsquote der mittleren Altersgruppen in Deutschland dank Reformen der Sozialleistungssysteme deutlich an, sodass das Lohnniveau wettbewerbsfähig blieb. Außerdem stellten die Beitrittsländer zur Europäischen Union eine zusätzliche Quelle gut ausgebildeter und günstiger Arbeitskräfte dar, Russland lieferte billige Energie und dank Just-in-Time-Fertigung in China konnte Deutschland sich auf Produkte mit höherem Mehrwert zu konzentrieren.
Aber inzwischen hat sich der Wind in vielen Fällen gedreht. Weitere Reformen der Sozialleistungen sind kaum mehr möglich und die Zahl der Wirtschaftsmigranten hat abgenommen. Deutschland braucht ungefähr 400.000 Einwanderer pro Jahr, um die Lücke zu schließen, die durch die Alterung der Erwerbsbevölkerung entsteht, hat aber Schwierigkeiten, diese Zahlen zu erreichen. Die Wirtschaft kommt langsam ohne russisches Gas aus und bestimmte strategische Lieferketten werden zurzeit umgestaltet. Durch diese strukturellen Veränderungen wird das Wachstum in Deutschland, während das Land zu einem neuen Wirtschaftsmodell übergeht, noch mehrere Jahre gedämpft bleiben. Früher hätte man Haushaltsmittel eingesetzt, um die damit einhergehenden Schmerzen zu lindern, aber das ist dieses Mal wegen der deutschen Schuldenbremse nicht möglich.
Das italienische verarbeitende Gewerbe wird mit ähnlichen Herausforderungen wie in Deutschland konfrontiert sein, und angesichts des sehr hohen Schuldenstandes des Landes hat die Regierung einen ähnlich geringen Spielraum beim Einsatz von Haushaltsmitteln. Frankreich verfolgt eine aktive Industrie- und Haushaltspolitik, was dazu beitragen wird, den Übergang verträglicher zu gestalten. Frankreich ist das einzige große Land in der Eurozone mit einer nachhaltigen demografischen Entwicklung und dürfte daher weitaus weniger von der Alterung der Bevölkerung betroffen sein.
Die Industrie macht in Spanien einen viel geringeren Teil der Wirtschaft aus als in anderen Ländern. Sie könnte zwar unter dem in der gesamten Eurozone zu beobachtenden Rückgang des Dienstleistungssektors leiden, aber Erhebungen zufolge scheint die spanische Wirtschaft nach wie vor am robustesten zu sein.
Die geopolitische Unsicherheit wird den Privatverbrauch und die Investitionen vor allem dann belasten, wenn die Energiepreise erneut steigen sollten. Wie groß die Folgen sein werden, hängt davon ab, wie die nationalen Regierungen reagieren. Wenn die Preissteigerungen überwiegend oder vollständig an die Verbraucher weitergegeben werden, kommt es zu einem Nachfrageeinbruch, der den Inflationsdruck deutlich verringern und die EZB in die Lage versetzen wird, den Anstieg der Energiepreise außer Acht zu lassen. Sollten die Regierungen jedoch auf die steigenden Preise mit einer Senkung der Mineralölsteuern reagieren, könnte die dann einsetzende Inflation den Druck auf die EZB erhöhen, weitere Straffungen umzusetzen.
Das wohl größte zukünftige geopolitische Risiko ist ein Handelskrieg mit China. Obwohl manche europäische Länder bereit sind, Zölle auf Importe aus China einzuführen, befürchten andere eher, dass dann ihr Zugang zum chinesischen Markt eingeschränkt wird. Ein Handelskrieg mit China würde zu Lasten der externen Nachfrage und damit auch des Wachstums der Eurozone gehen.
Eine weitere Bedrohung für das Wachstum sind restriktivere Finanzierungsbedingungen (Abbildung 2). Die Geldpolitik der EZB hat zu wesentlich restriktiveren Finanzierungsbedingungen in der Eurozone geführt: Laut der Kreditumfrage der EZB unter den Banken ist die Kreditnachfrage der Privathaushalte und Unternehmen drastisch gefallen und die Kreditbedingungen sind restriktiver geworden. Die eng und breit gefassten Geldmengenaggregate sind 2023 ebenfalls beide gefallen – ein weiterer Indikator für eine sehr restriktive Geldpolitik. Diese Effekte wurden durch Spillover-Effekte aus den USA verstärkt, wo Sorgen wegen höherer Leitzinsen und der hohen Geldemission zu einem anhaltenden Ausverkauf auf den Märkten für Staatsanleihen geführt haben.
(Abb. 2) Die Kreditbedingungen werden restriktiver, aber das Tempo hat sich verlangsamt
Externer Druck in Form steigender Renditen könnte dazu führen, dass die Finanzierungsbedingungen ungeachtet dessen, welche geldpolitischen Schritte die EZB selbst unternimmt, sogar noch weiter verschärft werden. Schlimmstenfalls könnte eine schnelle, von externen Faktoren angetriebene Verschärfung der Finanzierungsbedingungen die Renditen von Staatsanleihen der Eurozone auf Niveaus treiben, die mit Sicherheit bedeuten würden, dass man weit hinter dem Inflationsziel zurückbleibt. In diesem Fall könnte die EZB beschließen, den Leitzins zu senken.
Unter restriktiven Finanzierungsbedingungen leiden nicht nur Verbraucher und Firmen, sondern auch Staaten – der jüngste starke Anstieg der Anleiherenditen hat die Kreditaufnahme verteuert, was staatliche Ausgaben einschränkt und den Binnenverbrauch und die Unternehmensinvestitionen belastet. Dies wird jedoch bis zu einem gewissen Grad von der externen Nachfrage wettgemacht, die weiterhin unterstützend wirken dürfte, vor allem wenn die US-Wirtschaft robust bleibt. Spillover-Effekte auf das Wachstum durch mögliche weitere haushalts- oder geldpolitische Anreize in China wären wahrscheinlich ebenfalls günstig für Europa.
Stand jetzt dürfte die Inflation in den kommenden Monaten zu sinken beginnen und diese Tendenz bis ins nächste Jahr hinein beibehalten. Nach der COVID-Pandemie führten gestörte Lieferketten zu einem Preisschub bei Industrieprodukten. Mittlerweile haben sich die Lieferketten zum Großteil normalisiert und die Preise für Industrieprodukte fallen. Darüber hinaus werden sich die Auswirkungen der Straffungen der EZB auf die Inflation sehr wahrscheinlich erst in der zweiten Jahreshälfte 2024 voll bemerkbar machen. Sofern Rohstoffpreisschocks ausbleiben, könnte die Inflation schneller als derzeit erwartet in Richtung des 2%-Ziels der EZB fallen. Aus unserer Sicht sind die Risiken, dass die Inflation unter dem 2%-Ziel der EZB liegen wird, größer als derzeit angenommen.
Das größte Risiko für die Eurozone ist eine Wiederkehr der Stagnation, die in der Zeit vor der Pandemie herrschte. Dies ist ein größeres Risiko als eine anhaltende Inflation durch Zweitrundeneffekte. Nach der Weltfinanzkrise steckte der Währungsraum in einem Umfeld aus niedriger Inflation und niedrigem Wachstum fest. Seitdem hat die EZB ein Inflationsziel von 2%, das sie aber vor der Pandemie fast ein Jahrzehnt lang trotz quantitativer Lockerungen von über 1 Billion EUR kaum erreicht hat. Wenn die EZB die Geldpolitik zu früh strafft, könnte dies dazu führen, dass die Inflation wieder unter 2% fällt und in der Eurozone erneut Stagnation herrscht.
Dies ist kein kleines Risiko: Das verarbeitende Gewerbe in der Eurozone muss sich von billigem importiertem Gas und billigen Arbeitskräften wegentwickeln, was eine bedeutende strukturelle Herausforderung ist. Im Normalfall würde man Haushaltsmittel einsetzen, um die Nachfrage so weit anzukurbeln, dass ein reibungsloser Ablauf dieser Angebotsanpassung sichergestellt ist, aber die Eurozone unterliegt Haushaltszwängen. Die EZB steht somit vor einer schwierigen Aufgabe: Sie muss ihre Geldpolitik so abstimmen, dass sie restriktiv genug ist, um die Inflationsentwicklung mittelfristig im Bereich ihres 2%-Ziels zu halten, aber andererseits nicht so restriktiv, dass sie eine anhaltende Stagnation verursachen würde. Dies kommt einer Gratwanderung gleich.
Letzten Endes gibt es zwei Szenarien, in denen die EZB wahrscheinlich einen Zinssenkungszyklus beginnen würde: Entweder wenn das Wachstum kleiner als erwartet ausfällt oder wenn die Inflation schneller als erwartet unter das 2%-Ziel fällt. Aus unserer Sicht muss nur eines dieser Szenarien Realität werden, damit die EZB die Zinsen senkt. Wir bevorzugen daher Long-Positionen in deutschen Bundesanleihen, da wir erwarten, dass sie am meisten von Zinssenkungen in Europa profitieren würden. Unseres Erachtens wird die EZB schließlich die Zinsen um 150 bis 250 Bp. senken, womit sie die Markterwartungen übertreffen würde. Unter der Annahme, dass alle unsere Annahmen zutreffen, bedeutet das, dass der Euro wahrscheinlich im kommenden Jahr gegenüber einem breiten Spektrum von Währungen abwerten wird.
Was Aktien anbelangt, werden die Gewinnmargen der Unternehmen unter Druck bleiben, solange die Konjunkturbedingungen schwach sind. Wenn Europa eine Stagnation vermeidet und wieder auf Wachstumskurs kommt, könnten sich Gelegenheiten für Anlagen in starken Unternehmen ergeben, die dann wahrscheinlich noch relativ günstig bewertet sind.
Blickt man über die Europäische Union hinaus, erwartet die Bank of England (BoE) eine Stagnation der britischen Wirtschaft bis Anfang 2025, hält es aber für „viel zu früh“, um über Zinssenkungen nachzudenken. In Großbritannien hat sich die Inflation im Vergleich zu anderen Wirtschaftsräumen tatsächlich als hartnäckiger erwiesen. Das Lohnwachstum beträgt laut amtlichen Angaben immer noch rund 8% pro Jahr, also deutlich mehr, als erforderlich ist, damit die Inflation mittelfristig auf ihren Zielwert zurückgeht.
Gleichzeitig ist aber anzumerken, dass die Umfragen zum Wohnungsmarkt und Verbrauchervertrauen, im verarbeitenden Gewerbe und im Dienstleistungssektor alle auf Niveaus liegen, die aus historischer Sicht eine Rezession signalisieren. Der geldpolitische Ausschuss der BoE hat den Auftrag, die Inflation bei 2% zu halten. Aber eine Geldpolitik, die die Wirtschaft in eine tiefe Rezession abgleiten lässt, kann dazu führen, dass das Inflationsziel längerfristig unterschritten wird, was genauso wenig wünschenswert ist wie ein Überschreiten des Inflationsziels. Die Bank of England steht daher, genau wie die EZB, vor einem sehr schwierigen Balanceakt.
Wie dieser Balanceakt ausgeht, hängt vom Arbeitsmarkt ab. Aus historischer Sicht setzt sich ein Anstieg der Arbeitslosenquote, wie wir ihn letztes Jahr erlebten, bis auf weit höhere Niveaus fort. Laut den Prognosen der Bank of England wird die Arbeitslosenquote in Großbritannien nur allmählich, um 0,1% pro Quartal, ansteigen und im vierten Quartal 2026 einen Höchststand von 5,1% erreichen. Ich halte das für allzu optimistisch und erwarte vielmehr, dass die Arbeitslosenquote schneller als die BoE erwartet ansteigen wird. Wenn ich Recht behalte, wird die BoE die Zinsen wahrscheinlich schneller senken, als der Markt zurzeit erwartet.
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