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September 2023 / INVESTMENT INSIGHTS

Das Märchen von der sanften Landung

Der Wandel der Konsensmeinung hin zu einem leichten Abschwung erscheint unangebracht

Auf den Punkt gebracht

  • Die Prognose einer sanften Landung ist lediglich ein bequemes Märchen, das an das vorherrschende Marktnarrativ angepasst wurde und auf der Rückschau auf einzigartige Umstände beruht.
  • Der Wirtschaft steht eine harte Landung bevor – die Frage ist nur, wann. Die vorübergehenden Vorteile der gelockerten Finanzbedingungen und der zusätzlichen US-Staatsausgaben werden bald an Bedeutung verlieren.
  • Wenn sich die weltweite Konjunktur in früheren Zyklen auf einem ähnlichen Niveau wie derzeit bewegte, senkten die Zentralbanken bereits die Zinsen. Doch jetzt halten sie an der Straffung ihrer Geldpolitik fest.  

Zu Beginn des Jahres 2023 rechnete die Mehrheit der Marktteilnehmer mit einer globalen Rezession im späteren Jahresverlauf. Doch im Laufe des Jahres hat sich die Konsensmeinung hinsichtlich der Konjunkturaussichten völlig verändert. Eine sanfte Landung der Wirtschaft – oder sogar überhaupt keine Landung – ist jetzt das überwiegend erwartete Szenario. Bemerkenswert ist dabei, wie stark der Konsens geworden ist. Kaum jemand scheint von dieser Meinung abzuweichen.

Doch ich sehe dieses Thema anders. Die Prognose einer sanften Landung ist lediglich ein praktisches und bequemes Märchen, das an das vorherrschende Marktnarrativ angepasst wurde und auf der Rückschau auf einzigartige Umstände beruht. Der Wirtschaft steht eine harte Landung bevor – die Frage ist nur, wann.

Vermutlich einmalige Ereignisse wecken falsche Hoffnungen

Dank eines warmen Winters konnte Europa die schwere Rezession vermeiden, die angesichts der hohen Energiepreise und der Versorgungsprobleme nach Russlands Einmarsch in die Ukraine nahezu unvermeidlich erschien. Dies führte am Ende des Winters zu einer Welle des Optimismus über die Aussichten für die Region. Die Dynamik am europäischen Energiemarkt hat sich sicherlich verbessert, aber wahrscheinlich nicht genug. Steht uns ein weiterer warmer Winter bevor? Ich weiß nicht, ob sich die Anleger bei der Allokation von Kapital auf diese Hoffnung stützen sollten.

Auf fiskalpolitischer Ebene erhielt das Wachstum der US-Wirtschaft Anfang 2023 einen kräftigen Schub durch den Inflation Reduction Act1. Mit diesem Gesetz wurden Staatsausgaben von insgesamt fast 900 Mrd. USD genehmigt, die hauptsächlich für Projekte in den Bereichen Fertigung und Klimaschutz bestimmt sind. Der CHIPS and Science Act gab dem Wachstum weitere fiskalpolitische Impulse. Die Wirkung dieser Maßnahmen mag zwar noch positiv sein, ihre Kraft lässt jedoch nach. Angesichts der bevorstehenden Wahlen in den USA und des bereits hohen Staatsdefizits dürfte der Umfang zusätzlicher fiskalischer Anreize begrenzt bleiben.

Während der Krise der US-Regionalbanken im März richtete die US-Notenbank (Fed) zudem eine neue befristete Finanzierungsfazilität ein, um den Liquiditätsengpass der Banken zu überbrücken. Die Marktteilnehmer rechneten damit, dass die Fed ihre Zinserhöhungen bald verlangsamen oder ganz einstellen würde, was eine erhebliche Lockerung der Finanzierungsbedingungen zur Folge hätte.2 Die Rendite zweijähriger US-Treasury-Notes fiel zwischen dem 8. und dem 24. März von 5,07% auf 3,77%, da die Erwartungen an den weiteren Straffungskurs der Fed an den Märkten rasch neu bewertet wurden.3 Auch die Hypothekenzinsen sanken und gaben der Wirtschaft einen weiteren Schub. Doch dieser Effekt war nur von kurzer Dauer, denn aufgrund der Hoffnung auf eine sanfte Landung sind die Renditen und Hypothekenzinsen seitdem wieder gestiegen.

Am Zenit: Was steigt, muss irgendwann fallen

Doch die vorübergehenden Vorteile der gelockerten Finanzierungsbedingungen und der zusätzlichen US-Staatsausgaben werden bald an Bedeutung verlieren. Ich befürchte sogar, dass alle Faktoren, die bisher zur Robustheit der Weltwirtschaft beitragen, möglicherweise den Zenit überschritten haben:

  • Fiskalpolitik
  • Inflation
  • Liquidität
  • Wachstum der chinesischen Wirtschaft
  • Wohnungsmarkt
  • Kreditvergabe
  • Arbeitsmarkt

Aggressive Straffung und hohe Verschuldung stellen die Weichen für eine harte Landung

Der globale Fertigungssektor lässt bereits Anzeichen einer Rezession erkennen. Auch der durch die Covid-Krise ausgelöste Boom im Dienstleistungssektor scheint den Höhepunkt überschritten zu haben. Die Lage an den Arbeitsmärkten hat sich ebenfalls eingetrübt.

Was am wichtigsten ist: Wenn sich die globalen Konjunkturindikatoren in früheren Wirtschaftszyklen auf einem ähnlichen Niveau wie derzeit bewegten, hatten die Zentralbanken schon lange mit Zinssenkungen begonnen. Doch jetzt halten die Währungshüter an Zinserhöhungen fest und bauen gleichzeitig durch quantitative Straffung ihre Bilanzen ab. Weltweit scheinen die Zentralbanken ihre Geldpolitik auf eine Welt ausgerichtet zu haben, in der die starken positiven Impulse im Anschluss an die Pandemie – der durch das Sparverhalten während der Covid-Krise ausgelöste Ausgabenboom und die vom Dienstleistungssektor angeführte Erholung – bis weit in die Zukunft hinein anhalten.

Die US-Notenbank hat die Federal Funds Rate seit Beginn des Straffungszyklus im März 2022 um mehr als 500 Basispunkte (Bp.) angehoben, und derzeit hat es den Anschein, als könnte sie die Zinsen 2023 ein weiteres Mal erhöhen. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat ihren Leitzins um mehr als 400 Bp. erhöht, die Bank of England um mehr als 500 Bp. Selbst die Bank von Japan, die im Vergleich zu anderen Industrieländern mit
einer deutlich niedrigeren Inflation konfrontiert ist, hat ihr Zielband für die Renditen von Staatsanleihen ausgeweitet, um einen Renditeanstieg zu ermöglichen.

Wie uns Vertreter der Zentralbanken oft in Erinnerung rufen, setzt die Wirkung geldpolitischer Maßnahmen mit langen und variablen Verzögerungen ein. Die kumulierte globale Straffung der Geldpolitik ist massiv. Diese Einschätzung wird sich schließlich zum dominanten Narrativ entwickeln und den derzeitigen Marktkonsens ersetzen, der sich auf die positiven Effekte der jüngsten einmaligen Ereignisse konzentriert.

Hinzu kommt, dass alle Voraussetzungen für eine harte Landung der Wirtschaft gegeben sind. Die Verschuldung scheint in einigen Bereichen des Finanzsystems zu steigen, und wir wissen aus Erfahrung, dass ein hoher Verschuldungsgrad Risse verursacht, aus denen rasch Krater werden können. Und einige dieser Risse sind bereits sichtbar, etwa die Liquiditätsprobleme von US-Regionalbanken sowie die starken Spannungen im chinesischen Immobiliensektor und bei britischen Pensionsfonds. Ich befürchte, dass sich als Nächstes ein Krater öffnen könnte.

Ein hoher Verschuldungsgrad ist jetzt in anderen Bereichen wahrscheinlich als während der globalen Finanzkrise. Im Bankensystem hat eine umfassende Disintermediation stattgefunden, durch die Aktivitäten in weniger gut regulierte und intransparentere Bereiche verlagert wurden. Das bedeutet, dass sich andere Bereiche als in der Vergangenheit als anfällig erweisen können.

Die Einpreisung einer sanften Landung ist unrealistisch

Den anderen Bereich, in dem die Verschuldung zugenommen hat, bilden die Staatshaushalte. Während der Pandemie kam es zu einer umfangreichen Verlagerung von Schulden vom privaten in den öffentlichen Sektor. Das hat mehrere Konsequenzen. Erstens ist das Potenzial der Staatshaushalte nun weitgehend ausgeschöpft. Wenn die Rezession kommt, wird es den Regierungen schwerfallen, die Krise durch zusätzliche Ausgaben zu überwinden.

Zweitens müssen die Regierungen weltweit eine Menge neuer Anleihen verkaufen. In letzter Zeit wurde ein Großteil der Emissionen am Markt für Schatzanweisungen getätigt, doch viele dieser kurzfristigen Titel werden im Jahr 2024 fällig und müssen dann durch Anleihen mit längerer Laufzeit ersetzt werden.  

Wer wird all diese Duration4 kaufen, und dies in einer Zeit, in der die Zentralbanken ihre Anleihekäufe reduzieren? Daher dürften die Renditen lang laufender Anleihen steigen. Zwar werden die Zentralbanken auf eine Rezession schließlich mit einer – verspäteten – Lockerung ihrer Geldpolitik reagieren, doch die beruhigende Wirkung dieser Leitzinssenkungen könnte dadurch aufgehoben werden, dass sich die Renditen längerfristiger Anleihen kaum ändern. Eine verspätete, schwache und unvollständige Reaktion könnte zu einer schwereren und länger andauernden Krise führen.   

Die Konsensmeinung geht von einer sanften Landung der Wirtschaft aus. Kurzfristig könnten Chinas Konjunkturprogramme und die mögliche Aufstockung der Lagerbestände die gute Stimmung verlängern. Doch auf längere Sicht ist eine harte Landung viel wahrscheinlicher. Es ist unvermeidlich, dass die langen und variablen Verzögerungen in der Wirkung der Geldpolitik zum dominanten Thema werden. Es stellt sich nur die Frage, wann diese Entwicklung eintritt und wie sie bewältigt werden kann.

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