Juni 2023 / Marktausblick zur Jahresmitte
Nach den ersten Maßnahmen zur Wiedereröffnung der Wirtschaft dürfte China eine breiter abgestützte Erholung erleben. Es ist aber eine holprige Entwicklung zu erwarten.
Die Wiedereröffnung von Chinas Wirtschaft ist im Großen und Ganzen so verlaufen, wie wir es im Dezember 2022 erwartet hatten. Anfangs gaben einige positive wirtschaftliche Überraschungen dem Anlegervertrauen Auftrieb. Beispielsweise lag das Wachstum des chinesischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) im 1. Quartal mit 4,5% deutlich über der Konsensprognose von 4%. Auch der Konsum erholte sich kräftig, vor allem aufgrund der spürbaren Belebung im Dienstleistungssektor.
■ Reisebezogene Verbraucherdienste erholten sich sehr stark.
■ Der Catering-Sektor wuchs im März um mehr als 20% sowie im 1. Quartal insgesamt um rund 14%.
■ Die Industrieproduktion fiel ein wenig schwach aus, ebenso die Exporte vor der Erholung im März. Aber beide lagen im Rahmen der Erwartungen.
Wohnimmobilien bleiben ein Sektor, der nach den starken Rückgängen des Vorjahres für erhebliche Unsicherheit sorgt. Der Immobilienmarkt im 1. Quartal erscheint zweigeteilt. In Städten der oberen Kategorien, in denen die politischen Beschränkungen für Hauskäufe auf Stadtebene gelockert wurden, war eine gute Erholung zu beobachten. Die Umsatzzahlen in Provinzstädten der unteren Kategorie blieben jedoch schwach, was zum Teil auf die Abwanderung in größere Städte zurückzuführen sein könnte. Der Gesamtwert der Immobilienverkäufe erhöhte sich im 1. Quartal um 4,1%, und die Preise für Neubauten stiegen im März den dritten Monat in Folge. Die Zahl der landesweiten Neubaubeginne lag nach wie vor im Kontraktionsbereich, wenngleich nicht mehr ganz so weit.
Unseres Erachtens dürfte die aktuelle Schwäche der Wirtschaftsdaten aus China nur von kurzer Dauer und kein größerer Trend sein, der die Erholung im Jahr 2023 aus dem Tritt bringen könnte. Wir erwarten eine schrittweise, aber breiter angelegte Konjunkturerholung im Rest dieses Jahres und bis ins Jahr 2024 hinein. Aufgrund der volatilen Basis, der Unsicherheit in der Außenwirtschaft und der geopolitischen Spannungen ist jedoch mit einer holprigen Entwicklung zu rechnen. In einem solchen Umfeld konzentrieren wir uns auf eine gezielte Titelauswahl, um die Unsicherheiten zu bewältigen.
Die jährlichen Wachstumsraten der Einzelhandelsumsätze, Anlageinvestitionen und Industrieproduktion sind im April markant gestiegen, was jedoch durch Basiseffekte infolge des Lockdowns in Shanghai im April 2022 bedingt war. Die Basiseffekte werden die Datenvergleiche zum Vorjahr voraussichtlich im ganzen Jahr 2023 verzerren und für ein erhebliches „Rauschen“ in den Monatsdaten sorgen. Die jährlichen Gesamtwachstumsraten der letzten vier Jahre zeigen, dass Chinas Wirtschaft nach der ersten Phase der Wiedereröffnung an Schwung verloren hat.
Nach schwächeren Wirtschaftsdaten im April machen sich die Anleger in letzter Zeit Sorgen über die Nachhaltigkeit der Konjunkturbelebung. Deshalb ist die Rally chinesischer Aktien, die letzten Oktober begann, zuletzt ins Stocken geraten. Der Markt weist dadurch attraktive Bewertungen auf, vor allem in Sektoren wie Kommunikationsdienste und Informationstechnologie (IT) (Abb. 1).
Bewertungen in China sind attraktiv
(Abb. 1) Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) für die nächsten zwölf Monate Historische Daten letzte fünf Jahre.
Die erste Phase der Wiedereröffnung von Chinas Wirtschaft – die Verbraucherdiensten in Bereichen wie Reisen, Unterhaltung, Hotels und Restaurants zugutekam – ist unseres Erachtens nun weitgehend vorüber. Allerdings dürfte die Konjunkturerholung in mehrere Phasen unterteilt sein. Infolge der Pandemie wurden im Dienstleistungssektor in den letzten drei Jahren Schätzungen zufolge bis zu 30 Millionen weniger Arbeitsplätze geschaffen, als ansonsten möglich gewesen wäre (Quelle: Morgan Stanley Research). In der ersten Phase erholten sich „erlebnisorientierte“ Arten des Konsums. Deshalb erwarten wir, dass sich die Beschäftigung in diesen Bereichen bessern und sich die Erholung in der zweiten Phase ausweiten wird, unter anderem auf Personalvermittler und den breiteren Konsumgüterbereich, einschließlich des Güterkonsums. Gegen Ende 2023 oder Anfang 2024 dürfte die dritte Phase der Erholung beginnen, wenn spätzyklische Themen im Zuge des verbesserten Geschäftsklimas wieder Fahrt aufnehmen. Dazu zählen unter anderem Werbeunternehmen und private Investitionen.
Wegen der zuletzt schwachen gesamtwirtschaftlichen Daten besteht zunehmend Aussicht auf fiskalpolitische Maßnahmen zur Unterstützung des Wachstums. Wann diese kommen und wie umfangreich sie sein werden, ist aber kaum vorhersagbar. Die Geldpolitik in China dürfte im ganzen Jahr 2023 Unterstützung bieten. Die chinesische Zentralbank People’s Bank of China (PBoC) senkte im März ihren Mindestreservesatz für Banken. Wie andere Wirtschaftsdaten war auch das Kreditwachstum in den letzten Monaten volatil und die meisten auf China fokussierten Ökonomen rechnen nun mit wenigstens einer Zinssenkung in diesem Jahr. Einfacher werden könnte dies, falls die US-Notenbank (Fed) nun kurz vor dem Höhepunkt ihrer geldpolitischen Straffung steht. Sollte zudem eine unsichere Auslandsnachfrage Chinas Exportwachstum belasten, können die Regulierer unseres Erachtens mit fiskalpolitischen Instrumenten und einer Lockerung der Vorschriften für Wohnimmobilien, zum Beispiel der Beschränkungen in Bezug auf Zweithäuser, das Wachstum ankurbeln.
Das BIP-Wachstumsziel der Regierung von „rund 5%“ für das Gesamtjahr ist alles in allem nicht anspruchsvoll. Die volatile Basis wird unserer Ansicht nach zu einer etwas holprigen Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Monatsdaten führen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die Erholung aus dem Tritt kommt.
Die Konsensprognosen zum Gewinn für den MSCI China Index für 2023 wurden nach der Wiedereröffnung zunächst nach oben korrigiert, tendieren seitdem aber schwächer. Ein wesentlicher Faktor ist, dass die Auswirkungen des Covid-19-Ausbruchs im 4. Quartal 2022 und Anfang 2023 kurzfristige Prognosen schwierig machen. Nach dem steilen Anstieg der Covid-19-Fallzahlen im Januar verfehlte etwa die Hälfte der chinesischen Unternehmen im 1. Quartal 2023 die Gewinnerwartungen. Wir gehen davon aus, dass sich dies in den kommenden Monaten in der zweiten und dritten Phase der Erholung ändern wird. Sobald die chinesischen Unternehmen die negativen Effekte der Covid-Lockdowns und der Schwäche im Wohnimmobiliensektor, die im Jahr 2022 belasteten, hinter sich gelassen haben, könnten sie zuversichtlicher werden, was die Belebung der Nachfrage angeht (Abb. 2).
Gewinnprognose: China im Vergleich zum Rest der Welt
(Abb. 2) Prognosen zum jährlichen EPS-Wachstum (%) für 2023 und 2024
Ein Merkmal, das die neue Führung seit dem Nationalen Volkskongress (NVK) im März auszeichnet, ist die Vielzahl von Erklärungen und Aussagen zur Unterstützung des Privatsektors. Nach dem harten Vorgehen der Aufsichtsbehörden in den Jahren 2021 und 2022 sind viele ausländische Anleger davon noch nicht überzeugt. Möglicherweise sind sie auch enttäuscht, dass seit dem NVK noch keine größeren fiskalpolitischen Anreize beschlossen wurden. Die Änderungen an der Wirtschaftspolitik der Regierung im Jahr 2023 betreffen bislang eher die Mikro- als die Makroökonomie. Uns ist jedoch wichtig, dass Ministerpräsident Li Qiang nach unserer Meinung für eine wirtschaftsfreundliche Politik steht. Wir erwarten unter seiner Führung eine größere politische Kontinuität in den nächsten Jahren. Wir hoffen auf stärker stabilisierende politische Maßnahmen, die den Privatsektor beruhigen und das Geschäftsklima verbessern.
Die geplante Umstrukturierung von Alibaba in sechs Geschäftseinheiten zeigt zum Beispiel, dass Unternehmen aus Chinas Privatsektor im aktuellen Umfeld möglicherweise mehr Freiheit zur Selbsthilfe und mehr Flexibilität spüren. Ferner ist bei der Genehmigung von Online-Spielen eine Normalisierung zu beobachten und vor Kurzem wurden auch einige ausländische Spieletitel genehmigt. Diese positiven Signale dürften die Energie und Innovation im Privatsektor erhöhen. Wir vertreten damit eine recht gegenteilige Meinung zu der gemeinhin negativen Haltung.
Ein weiteres Beispiel sind Chinas kürzlich veröffentlichte regulatorische Vorschriften für Unternehmen im Bereich künstliche Intelligenz (KI). Einige Beobachter werteten diese als negativ, weil sie bereits erlassen wurden, obwohl die KI-Branche noch in den Kinderschuhen steckt. Wir glauben dagegen eher, dass die Regierung aus der Vergangenheit gelernt hat. Früher ließ Peking neue Industrien häufig erst einige Jahre wachsen, bevor staatliche Regelungen erlassen wurden. Dadurch drohte eine negative Anlegerstimmung, weil die betroffenen Unternehmen bereits groß und die Auswirkungen der neuen Regelungen ungewiss waren. Diesmal hat Peking früh gehandelt, um der Branche eine Orientierungshilfe zu geben und einen regulatorischen Kurs abzustecken. Den Unternehmen dürfte dies helfen, ihre Produkte und Geschäftsmodelle frühzeitig so anzupassen, dass sie den neuen Regelungen entsprechen.
China bleibt ein wichtiger Teil der Weltwirtschaft. Trotz der möglichen Entkopplung in einzelnen Hochtechnologiebereichen, zum Beispiel bei hochmodernen Halbleitern und im Biotechsektor, kann China unseres Erachtens einen wesentlichen Beitrag zum Kampf gegen die weltweite Inflation leisten.
Die chinesische Regierung hat ihre Bereitschaft zu einer Zusammenarbeit mit den USA unter Beweis gestellt, wie die Beilegung des Konflikts über die Wirtschaftsprüfung der an US-Börsen notierten chinesischen Unternehmen belegt. Die Wiederaufnahme der hochrangigen Gespräche zwischen den Regierungen der USA und Chinas sowie die positiveren Aussagen zu China in der Erklärung beim jüngsten G7-Gipfel deuten darauf hin, dass die geopolitischen Spannungen abnehmen.
Wir betrachten den strategischen Wettlauf zwischen China und den USA als ein strukturelles Phänomen. Die beiden Länder und der Rest der Welt stellen sich auf das neue Umfeld ein und müssen ein Gleichgewicht finden. Währenddessen müssen wir als Anleger Bereiche aufspüren, die von politischen Veränderungen wahrscheinlich nicht negativ beeinflusst werden oder die von der Umgestaltung der Lieferketten profitieren dürften.
Die Struktur des chinesischen Aktienmarkts hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten dramatisch verändert und wird sich unseres Erachtens auch weiterhin verändern (Abb. 3). Dynamische Branchen- und Sektortrends sind in China die Norm. Die Anleger müssen deshalb jeden wichtigen Trend frühzeitig vorausahnen, um auf der Höhe zu bleiben. Abbildung 3 zeigt, dass die Sektoren Konsumgüter, Gesundheit und Technologie seit 2013 erheblich an Bedeutung gewonnen haben, während das Finanzwesen, Energie und Telekommunikation an Bedeutung verloren haben.
Struktur von Chinas Aktienmarkt ändert sich rasch
(Abb. 3) Konsumgüter, Gesundheitswesen und Technologie haben an Bedeutung gewonnen, Finanzwesen, Energie und Telekommunikation dagegen verloren
Ein gutes Beispiel liefern Elektrofahrzeuge (EV), die derzeit in Chinas Automobilindustrie für rasante Umwälzungen sorgen. Unsere Branchenanalysten besuchten im April die Automobilausstellung in Shanghai und bestätigten unsere Einschätzung, dass EVs heute ein Mainstream-Bereich der chinesischen Automobilindustrie ist. Von den mehr als 100 neuen Modellen, die dort vorgestellt wurden, waren mehr als 70% EVs und stellten traditionelle Autos mit Verbrennermotor zahlenmäßig deutlich in den Schatten. Lokale Marken sind mit über 80% Anteil am EV-Markt nach wie vor führend (Abb. 4).
Bei EVs dominieren lokale Marken Chinas Automarkt
(Abb. 4) Anteil lokaler Hersteller im Vergleich zu ausländischen Marken und Joint Ventures (JV)
Jacqueline Liu
Jeden Monat erstellt unser Investmentkomitee einen Bericht, in dem es die zwei von ihnen beobachteten Marktthemen, ihre Einschätzung der Anlegerstimmung in den einzelnen Regionen und ihre neuesten Über- und Untergewichtungen von Anlageklassen darlegt.
Dieser Bericht soll Ihnen bei Ihrer Entscheidungsfindung und bei der Beratung Ihrer Kunden helfen.
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